Der Bilderzyklus „Achill und Aiax“ – von Dr. Manfred Strecker

Zu seinem Werkzyklus „Brettspieler“ ließ sich Günter Frecksmeier durch die Malerei des griechischen Künstlers Exekias auf einer Amphore inspirieren: Achill und Aiax sitzen beim Brettspiel, ihre Waffen griffbereit, eine Szene aus dem Trojanischen Krieg, gemalt ca. 550 v. Chr. Die Amphore befindet sich heute in der Sammlung des Vatikan.

Brettspieler

Der Bilderzyklus „Achill und Aiax“ des Bielefelder Malers Günter Frecksmeier
Von Dr. Manfred Strecker

Ein Bild begleitet einen Maler manchmal weit und lange durch die Jahre. Wie eine tragende existentielle Wahrheit immer wieder geprüft und befragt, gibt es dennoch seine Bedeutung nicht völlig preis. Und in der Aneignung, also von eigenem Bild zu Bild verwandelt sich überraschend, was einmal in blitzartiger Einsicht die Lösung der Rätsel versprochen hatte.

Fast 50 Jahre schon, 1967 zum ersten Mal, beschäftigt den Bielefelder Maler Günter Frecksmeier ein Vorbild aus der Antike: Achill und Aiax – die nach den Sagen stattlichsten Helden der Griechen vor Troja – sitzen sich beim Brettspiel gegenüber. Dieses durchaus bekannte Motiv schmückt eine Bauchamphore, die die vatikanischen Sammlungen in Rom besitzen. Es stammt von Exekias, tätig um 550 bis 530 v. Chr. – einem Künstler, dessen szenische Darstellungen mit wenigen, aber charakteristischen Figuren im offenen Bildraum noch heute überzeugen. Die griechischen Helden beim Spiel erfasst der Töpfer und Vasenmaler Exekias im Seitenblick. Er zeigt sie konzentriert und ernst über das Spielbrett gebeugt. Aber alle Anzeichen sprechen dafür, dass sie unvermittelt in den Kampf gehen könnten, sobald sie gerufen werden. Beide sind gerüstet. Achill trägt seinen Helm, der des Aiax ist in Griffweite. Beide halten die Speere und Lanzen in den Händen.

Und dennoch: Um ein Genrebild aus dem müßggängerischen Lagerleben vor Troja handelt es sich gewiss nicht. Achill stirbt, wie man weiß, heldenhaft im Kampf vor der belagerten Stadt. Aiax begeht Selbstmord, nachdem er – wieder bei Bewusstsein – eines Ausbruchs von Wahn gewahr wurde, bei dem er die Herden der Griechen niedergemetzelt hatte. Odysseus soll beiden als Schatten, so berichtet Homer, in der Unterwelt begegnet sein. Nachhomerische Überlieferung jedoch versetzt sie – nun unsterblich geworden – auf die Insel Leuke. Und dort hat sie Exekias beobachtet bei ihrem nimmer endenden Spiel, das sie nur unterbrechen werden, um wieder – wie einst – gegen Troja zu ziehen.

Eine Szene außerhalb aller menschengeschichtlichen Zeit und historischen Gelegenheit – vielleicht hat Frecksmeier gerade diese Zeitentrückung fasziniert –, die diesen Figuren götterähnliche Größe und Ausstrahlung gibt. In seiner ersten Interpretation 1967, ein schwarz-weiß gemalter Karton, setzt er diesem Vorbild seine eigenen Figuren und Symbole ein – wie in eine Choreografie, die Positionen und Beziehungskonstellationen regelt. Aber damit verwandelt sich das Vorbild des Exekias. Und Frecksmeier gewinnt eine Bildersprache des Mythos und des Phantastischen, die auch noch unsere aufgeklärt scheinende, auf jeden Fall entzauberte heutige Realität umgreift. Achill sitzt nun einem Heldentypus moderner Prägung gegenüber, einem Astronauten im Raumanzug und unter Schutzhelm. Das Brett ruht auf dem Rücken eines mythischen Tiers. Ihrem Spiel geben sie sich weltvergessen hin. In diesem bildnerischen Entwurf kommen so wie selbstverständlich zwei ferne Welten in einer Wirklichkeit zusammen. Die Geschichtsthese, die darin vielleicht verborgen liegt, wäre pessimistisch: Viel ändert sich in der Ausstattung der Welt, wenig in den Verhältnissen.

In Frecksmeiers Bilderreihe, sogar in Bilderobjekten, die sich daran anschließen, bleibt das Grundarrangement bis auf geringe Ausnahmen dasselbe. Neue verrätselte Elemente fügt der Maler ein – Verkündigungsengel und Totenschädel, Auto und Atomkraftwerk als Zeichen der Neuzeit. Doch über die Jahre verändert sich der Gehalt der Szene, mal mählich, mal schubweise, selbst. Äußere Umbrüche zeitigen bildnerische Wirkungen. Mit dem Fall der „Mauer“ bricht eine Weltordnung zusammen, die die politische Wirklichkeit in der globalen Gegnerschaft von West und Ost polarisiert hatte und die Frecksmeier ebenfalls in seinem Bildmotiv spiegelte.

Zwei gegensätzliche Möglichkeiten spielt der Maler daraufhin 1991 durch. Achill und der Astronaut hinfällig, als leblose zerbrechende Puppen aufgefasst in einer schäbig gewordenen Umgebung; und es steigt die Flut. Zum anderen ein Bild, auf dem die zuvor noch würfelnden Kontrahenten das Widerspiel aufgegeben haben.

Aus dem Schachtisch ist ein Verhandlungstisch geworden. Und in einer tänzerisch verzückten Erlösungsgeste feiert Achill eine neue Lebensfreiheit.

Ein Bild begleitet einen Maler manchmal weit und lange durch die Jahre. Frecksmeier hat das Vorbild des Exekias in seiner Kunst in verschiedenen Bildsprachen und Materialien dekliniert. Merkwürdig, undurchsichtig, von eigenartiger Präsenz sind alle diese phantastischen Zeitdeutungen, in denen Weltgeschehen und Biografisches zusammentreffen – nach künstlerischer Logik. Ein Vierteljahrhundert bildnerischen Denkens: Die Gelegenheiten, dies auf solche Zeiträume zu beobachten, sind rar.

Januar 1993 (aktualisiert 2017)

(Mittlerweile ist es fast ein halbes Jahrhundert bildnerischen Denkens, fast 50 Jahre! Das ist noch rarer. Und es sind mittlerweile an die 30 bis 40 Werke, in denen Frecksmeier dieses Thema dekliniert hat. So genau weiß er das selbst nicht mehr …, Anmerkung des Sssetzers)