Die Bildwelten von Günter Frecksmeier – ein Text von Prof. Dr. Erich Franz

Titelseite des Katalog zur Ausstellung von 1983 in der Studiengalerie der Kunsthalle Bielefeld

„Die Bildwelten von Günter Frecksmeier sind vor allem bestimmt durch ihre Brüchigkeit – in den Ansätzen ihrer Gestaltung, in ihren Stilformen, ihren inhaltlichen Bedeutungen. Jede Bewegung stößt gleich wieder an Starrheit und Begrenztheit, jeder Gegenstand geht über in abstrakte Farben, jedes Motiv erscheint unvermittelt und unerklärbar. Frecksmeier ist nicht jemand, der mit solchen Brüchen spielt. Er „bedient“ sich ihrer nicht als Mittel für Effekte. Es gibt Virtuosen der Brüchigkeit, die ihre Tricks beherrschen, Jongleure der Verwandlungskunst und der Diskontinuitäten. Frecksmeier steht nicht über der Sache. Sein Fragen und Suchen ist nicht nur eine Attitüde des In-Frage-Stellens, seine Brüchigkeit läuft nicht nur hinaus auf jene verkniffene Ironie, die von vornherein schon jedes Wörtlich-Nehmen ausschließt und es sich in ihrer so gewonnenen Unantastbarkeit wohl einrichtet. Es gibt Taktiker des Rätselhaften, die genau wissen, wie man den Anschein des Rätselhaften erzeugt; es gibt Expressionisten, bei denen die Ekstase zum soliden und bewährten Handwerk gehört; es gibt Surrealisten, die jedes Unvorhersehbare genau nach Plan ablaufen lassen. 

In den Bildern von Günter Frecksmeier herrscht nicht eine solche durchkalkulierte Ordnung. Da gibt es keinen Eindruck des Darüber-Stehens und der unantastbaren Sicherheit. Er setzt ein, was ihn bewegt, worüber er nachdenkt, was ihm Eindruck macht. Gerade der Mangel an Glätte und Kalkulation ist ein Zeichen von Ehrlichkeit. Verlogen ist weniger, wer nicht die Wahrheit sagt. Verlogen ist, wer meint, was er sagt, sei durch und durch die Wahrheit. Was wäre Wahrheit bei solchen Themen wie „Mythos“, „Krieg“, „Stadt“, „Himmel“ oder „Erde“. Jede Aussage, die hier zu Ende formuliert wäre, die als Wahrheit daherkäme, wäre schwülstig und unerträglich. Und doch bewegen uns diese Themen. Frecksmeier geht sie an, indem er nichts als Versuche formuliert, Ansätze, die ihr Scheitern schon in sich tragen  – und es offen zeigen. Die Bilder von Frecksmeierhaben nicht eine geschlossene Oberfläche, die den Anschein von
Ganzheit erwecken. Sie bleiben offen für die Abgründe, für das Unverständliche und Unkalkulierte. Sie bewahren für sich auch dieMöglichkeit, Einflüsse einzubeziehen, die nicht gleich wieder zu einemSystem rationalisiert und durchkonstruiert werden. Diese Bilder zeigen
nicht Unantastbarkeit, sondern Empfindlichkeit, Verletzlichkeit und Hilflosigkeit; nicht das Beherrschen, sondern ein Ausgeliefert-Sein. 

In einer Zeit, in der die vorgeblichen und die eigentlichen Zwecke ständig völlig differieren, in der jede Unmittelbarkeit schon als naiv gilt und Taktik als Lebenskunst, ist eine Haltung bemerkenswert, die ihre Unsicherheit, ihr Bedrohtsein und ihre Fähigkeit, sich beeindrucken zu lassen, offen darstellt, die es auf ständig neue Versuche ankommen lässt, in dem unerschütterlichen – und doch stets erschütterten Glauben, daß sie gelingen könnten.

Erich Franz in: »Vordergrund – Abgrund«, Katalog zur Ausstellung in
der Kunsthalle Bielefeld 1983. 

Der Künstler Günter Frecksmeier – von Bernd Schlipköther

Eine Betrachtung von Bernd Schlipköther


Lebensstufen, 2006. Die Hand als Werkzeug des (Maler-) Geistes?

Eine Hand ruht – wie abgetrennt, aufgestellt und weit geöffnet, die Innenfläche sichtbar – auf einem Rundholz. Über den Handballen ziehen sich die sogenannten ›Lebenslinien‹, eine davon genäht. Eine ›Lebensnaht‹? Parallel dazu verläuft ein Gleis, das eine Spielzeugeisenbahn befährt und sich dem abgeschnittenen kleinen Finger der aus sieben Fingern bestehenden Hand nähert. Ein Mensch versucht sich hinter dem Daumen zu verstecken, oder anders gesagt: Er lugt aus seinem Versteck hinter dem Daumen hervor. Der Zeigefinger, der zu einem sich reckenden Menschen aufwächst, streichelt den Kopf eines anderen Menschen, der Sigmund Freud sein könnte, welcher aus dem Ringfinger herauswächst. Dieser Ringfinger entpuppt sich als ein Hochhaus. Des weiteren schweben im Bildraum eine geometrische Figur, drei größere Häuser und eine Schlinge, die einen ›verschlungenen Weg‹ andeuten könnte. Ganz hinten im Bild wächst ein Baum. Diese absurde ›Weltordnung‹ existiert in froher Farbe: von einem rötlich schimmernden Orange, über Rosa, Mint und in Grüntönen. Eine Metonymie! (Metonymie = Namensvertauschung in einem übertragenen Sinne, Anmerkung der Redaktion) Wir befinden uns inmitten der ausufernden, mäandernden, assoziativen Welt des Malers Günter Frecksmeier.

Die Bildreise bei Günter Frecksmeier ist immer eine Bildungsreise.

Die Bildreise des Günter Frecksmeier ist ohne Bildungsreise nicht denkbar. Sie führt uns in Themen der Kunstgeschichte, der Kulturgeschichte, der Literatur und Mythologie. Politische und religiöse Themen blättern wir auf: Porträts aus der Sagenwelt Homers, Reisen an die Spielorte, Troja, den Peleponnes und zu Heiligtümern der alten Griechen. Wir treffen unter anderem auf Patroklos, Achilleus, Orpheus u. v. a.

Olympia (Griechenland)

Wenn wir dann den Blick auf eine andere Bildwand richten, befinden wir uns inmitten der uns umgebenden Moderne. Da rangieren nebeneinander der Ostwestfalendamm, Päpste, Mensch und Tier, Politiker, Freunde im Porträt und Assemblagen mit ›zu handenen Dingen / im existen- tialen Mitsein‹: Ofenrohre, Wärmflaschen, Sardinenbüchsen, Gartenzäune und Kochlöffel.

Fassen wir die nächste mit Bildern bestückte Wand ins Auge, treten wir ein in Arenen mit Ringern und Bärendompteuren. Und dann thematisiert der Maler die Aufführungen selbst; sinnfälligerweise mit einem Blick aus den Kulissen, seitlich vom Bühneneingang aus gesehen fällt der Blick auf die Bühne der Akteure und den Zuschauerraum.

Vor der Imaginationskraft des Malers Günter Frecksmeier ist nichts sicher.

Er wurde 1937 in Bielefeld geboren, wächst zwischen Bombentrichtern und dem im Wiederaufbau befindlichen Bielefelder Osten, dem ›Vierten Karton‹, wie die Fabrikarbeiter und kleinen Handwerker, die dort hauptsächlich leben, ihren Stadtteil nennen. Dazwischen spielt Günter an der Huberstraße Fußball und absolviert eine Malerlehre, 1951 bis 1954.

Mief der 50er Jahre. Freiheit der Kunst!

Was kann ein junger Mann, der viel liest, die Augen aufsperrt, zuhört und in den Nachkriegswirren auf die Suche nach Erklärungen geht, machen? Günter Frecksmeier besinnt sich auf das, was seine Liebe und Erfüllung findet: die freie Malerei. Er geht in jede für ihn erreichbare Ausstellung und besucht 1963 für kurze Zeit die Kunstakademie Düsseldorf. Die eigenen Bilder, die jetzt entstehen, überzeugen. Seinen Horizont erweitert die Bildende Kunst. Er ist Autodidakt und bleibt es, jenseits der scholastischen ›Akademien‹. Die frühen Ausstellungen zeigen, dass er Anerkennung findet: Er stellt in der Studiengalerie der Kunsthalle Bielefeld aus, im Kunstverein Bielefeld, dessen Mitarbeiter er eine Zeit lang wird, im Pöppelmann-Haus in Herford, im Kapuzinerkloster Dornach, Schweiz und vielen Galerien der Region. Man erkennt in seiner Malerei den eigenwilligen Erzähler, die Offenheit in der Bildgestaltung, die überraschenden Übergänge zwischen Figürlichem und Abstraktem. Günter Frecksmeiers Bilder sind offen gestaltet. Die Horizontale ist räumlich selten richtig geschlossen und fast jedes Bild bedient sich des großen Spektrums der Farbpalette.

Der Anti-Orthodoxe, der Außenseiter und die ›arme Malerei‹.

Hinzu kommt, dass Günter Frecksmeier in seiner Kunst durch die Auswahl des Materials, angefangen beim Malgrund (Pappen, Weggeworfenes) bis gelegentlich hin zum Farbauftrag, bewusst eine ›arme Malerei‹ inszeniert. Und er lebt sie: Franziskus von Assisi ist in seinen Bildern ein immer wieder aufscheinendes Idol. Die ausgemusterte, abgestellte Regalplatte erfährt ihre neue Bestimmung als Trägerin malerischer Fantasie und aufgezeichneter Kulturgeschichte. Dass seine Malerei einfache, arme Bildträger, Weggeworfenes tragen und nicht flämisches Leinen, kann eins deutlich machen: Eine ›reiche‹ Bildwelt findet ihre ›Berechtigung‹ nur auf einem ›armen‹ Grund.

Mal-Stationen

Die Bilder, die Anfang der 60iger Jahre entstehen, zeichnen sich durch besonders weiche, schimmernde Farbtöne aus. Die Ausstrahlung dieser Arbeiten bestechen u. a. durch die empfindsame ›Ausmalung‹ einer und mehrerer Farben. Sie enthalten in ihrem – ob figürlichen oder abstrakten – Bildgefüge einen besonderen poetischen Ausdruck; es lassen sich Bezüge zur Romantik erkennen. Über die Zeit seines Malerlebens hinweg ist kennzeichnend für Günter Frecksmeier, dass er den absurden und symbolischen figürlichen Darstellungen oft abstrakte Formen zur Seite stellt. Seine Bilder und dreidimensionalen Werke sind in dieser Weise gemischt. Es gehört zur Dramaturgie seiner Bilder, dass er die ›Themen‹ in Bestandteile auflöst. Dennoch ist das Bild vorgeblich für den Betrachter immer eine Erzählung. Allerdings, um was es sich genau handelt, lässt sich nicht ohne Einblicke in die Rätselhaftigkeit und Absurdität der Werkphilosophie des Malers ergründen. Der führt ihn bereitwillig auf den Weg, verbirgt sich aber vor der Eindeutigkeit der Erklärung. Wie auf den mittelalterlichen Marktplätzen benutzt Günter Frecksmeier eine Art von Metonymie für seine Malerei. Er stellt eine Beziehung her zwischen dem wörtlich Gesagten und dem im übertragenen Sinn Gemeinten. Mit der Sprache allein lässt sich das im Bild wesentlich Gemeinte nicht immer in ausreichender Weise erfassen.

Seit den späten 90iger Jahren ergänzt Günter Frecksmeier seine frühe ›romantische Malerei‹ mit einer an Beckmann erinnernden, dramatischen, konturierenden Linienführung und intensiverer Farbgestaltung. Letztlich finden wir eine Vielzahl von Vergleichsmöglichkeiten bei den ›Erhitzern‹ der Moderne. Mit seinen fast 60 Jahren ›Maler-Leben‹ hat Günter Frecksmeier natürlich selbst einige kunstgeschichtliche Perioden durchlebt. Das Studium der Malerei war für ihn unaufhörlich verbunden mit dem Sehen unendlich vieler Bildwerke und den Reisen zu diesen kulturgeschichtlichen Gütern in der Nähe und in der Ferne. An Ort und Stelle suchte und sucht er für sich die malerischen Ideen, die in der  Auseinandersetzung mit dem Angeschauten die eigene Position festigt, infrage stellte oder verändert.

Keine Schublade

Eine Schublade gibt es für das künstlerische Schaffen Günter Frecksmeiers nicht. Er deutet Malerei, Leben und Mythos subjektiv und sehr viel anders als es scholastisch gelehrt wird. Das ist so, weil Art und Weise des menschlichen Daseins in Gänze für ihn nie nur rational zu fassen ist. Insofern bleibt er der Götterwelt, den Minotauren, dem Mensch-Tier-Verhältnis gewogen, gelegentlich auch dem Außerirdischen. Dass kann nur den verwundern, der sich ausschließlich ans Rationale gebunden fühlt. Dass die Welterfahrung, dass Liebe, Sorge, Angst, Gewalt u. a. m. immer auch in Vorstellungen vom Absurden der Existenz vorhanden sind, sind tragende Elemente in Günter Frecksmeiers bildnerischer Weltdeutung.

Von der Notwendigkeit der Malerei – von Prof. em. Jörg Boström

Schwer zu ertragen diese Sache, mit der wir es zu tun haben. Ich meine unser Lebens im einzelnen und allgemeinen, schwer zu ertragen ohne Malerei. Von der unerträglichen Leichtigkeit des Seins spricht Milan Kundera in seinem so betitelten Roman. Er schreibt dagegen an. Wir haben es hier mit der Bilderwelt, mit den Sensationen des Sehens zu tun. Um nicht unterzugehen in dem Gestrüpp des Kausalen, des Banalen, der Frühstücksprobleme, dem Picken um die Hackordnung, dem Feilschen um die Soße aus einer immer gleichen Küche, wehren wir uns mit dem Stift. So auch Frecksmeier. Auf großen Flächen, auf kleinen Papieren, bilden wir die Flächen und Figuren, die Farbsplitter und Lineamente unseres tonlosen Widerspruchs. Außer denen, die selbst dieser Sucht verfallen sind, sich in Bildern darzustellen, zu spiegeln und zu verformen, halten viele die Produkte dieses Tuns für Verschönerung, für Schmuck.

Malerei sagt Picasso, ist nicht erfunden worden, um die Wände zu schmücken, sondern als Angriff und zur Verteidigung gegen den Feind. Welchen Feind? Niemand bedroht uns ernsthaft, nur die Banalität und der Tod. So gesehen, ist Malerei eine ekstatische, aus sich herausbrechende Form des Lebens, ohne Zweck, wie dieses selbst. Man darf so weit gehen zu behaupten, je zweckloser eine Bilderwelt, desto näher ist sie am Leben, an der Artikulation unserer Existenz. Dieses Tun auf Leinwänden und Papieren, das in Ausstellungen und Katalogen eine bürgerliche, sich ordentlich eingefügte Form gibt, die sich hier als Festveranstaltung in die Zweckbestimmung einmogelt, existiert in Wahrheit nur aus sich selbst und für sich selbst. Malerei gehört zu unseren elementarsten Äußerungen.Man erkennt in der Geschichte die Geburtsstunde des menschlichen Bewusstseins in den Höhlen von Lascaux, in den Jägern und Tieren, in den Schwimmerbildern unter dem Boden der Wüste Sahara. In der von Zweck- und Zieldenken strukturierten, verschulten Welt bricht dieser ungezogene Trieb zur visuellen Musik immer wieder auf.

Der Körper ist das Instrument dieser Produktionen, die Hand, das Auge, aber auch Arme, Beine, Bauch und Kopf. Jeder Strich, jeder Farbauftrag auf der Fläche, geht durch Nerven und Muskulatur. So ist es nicht verwunderlich, dass der Körper, die Figur, die physische Empfindung des Selbst immer wieder zum Inhalt der Bilder wird, selbst da wo diese sich in freien Formen auf der Leinwand entwickeln. Die Kunstpsychologie spricht von eine anthropomorphen Struktur unseres Sehens und Gestaltens. Wenn die Welterfahrung vom ersten Griff des kleinen Kindes an seinen Zeh bis zur Umarmung des anderen Menschen über den Körper läuft, durch ihn hindurchgeht, so ist es begreiflich, dass dies sich in den Bildern niederschlägt.

Man spürt in den Werken dieses Künstlers nicht nur die geistige, sondern auch die körperliche Präsenz. Das Auge umfasst die umgebende Welt wie eine Kamera. Die Kamera gestaltet im Zugriff auf das Gesehene schon die eigene Welt. Im Kopf verbinden sich die Bilder und ihre Elemente zu immer neuen Konstellationen. Es ist eine vom Bewusstsein kaum noch zu steuernde Zusammenfügung immer neuer Bildwelten. Die Malerei macht diese sichtbar. Insofern ist Kunst auch ein Stück weit Indiskretion, ein Überschreiten der Grenzen von Intimsphären zwischen Gestalter und Betrachter. Die Faszination des Gestalters beim Setzen der Linien, des Strichgespinsts, das sich in Aufbau und Zerstörung fortentwickelt zu einer scheinhaften Endgültigkeit, die sich schon bei bildnerischen Vorstellungen fast zwanghaft entwickelt, ist in diesen verschlungenen Bildern zu erleben.  Eine neu zusammengefügte Welt strahlen die Werke immer wieder aus. Schon unbestimmte Formen im Material setzen unsere Vorstellung in Bewegung. Sie können vielerlei bedeuten, Flecken, Wolken, abgeschrubbte Dielenböden, Schaum, Rauch, Büsche in der Nacht, Zypressen und zerfließende Milch im Teeglas. Sie sind in den Umrissen offen, bewegt, erzeugen ständig neue Bildverbindungen.

Leonardo da Vinci empfiehlt den Blick auf bunt gefleckte Mauern. Als Künstler der Renaissance sieht er Schlachten darin, Gestalten mit lebhaften Gebärden, seltsame Gesichtszüge und Gewänder. Erlkönigs Töchter sieht der Reiter in Goethes Gedicht in den Nebelschwaden und Finsternis aus dem Gesträuche blickt ihn selbst mit schwarzen Augen an. Dem Surrealisten Max Ernst erscheint die Sphinx in ihrem Stall. Für den Psychologen Leo Navratil ist das menschliche Gesicht als Urerfahrung des ersten Blickes auf die Welt die stärkste Vision in der Deutung des Unbestimmten, weiterhin sieht er darin Anthropomorphes, Körperformen in unheimlicher, fantastischer und sexueller Formation.

Fast zeitgleich mit den Surrealisten entdeckt im Behn-Rorschach Test die Psychologie die Bedeutung der Ausdeutung nicht festgelegter Bilder. Die Tafeln mit sorgfältig getesteten Klecks-Bildern dienen der Analyse gutwilliger Patienten und werden zeitweilig als Grundlage für Einstellungsgespräche missbraucht. Es geht darum, die tiefen Schichten der Psyche und der Bilder zu reizen, hervorzukitzeln, die festgefahrenen Klischees der Massenkultur aufzuweichen, um die darunter fließenden Lavaströme freizulegen und ihre Form Welt im Zustand ihrer Entstehung zu erleben. Die Arbeit mit wuchernden Strichen, den Verletzungen und dem emphatischen Streicheln der Oberflächen, dem Fließenden, noch unbestimmten  Figurieren, dem allmählich sich Formenden vermittelt ein immer wieder faszinierendes Erlebnis, wenn man sich mit und neben dem Künstler darauf einlässt, es führt zu einer Offenheit und unbefangenen Intimität der Bildsprache, welche an die Grenzen der Person führen kann, an die Haut und gelegentlich unter sie.

Zwischen Selbsterfahrung, Bildentwicklung, Zugriff auf die Innenseiten, an die sich auflösende Grenze zwischen Innen und Außen, zwischen sich selbst bestimmendem Material und Kunst bewegt sich auch die verschlungene Bilderwelt von Günter Frecksmeier. Nicht nur die Willkür der Hand hat das Sagen sondern es sind auch die Bewegungen der Substanzen selbst, welche dem Bild Prozess über die psychische und formale Lenkung hinaus die Objektivität von Naturprozessen gibt. Entsprechungen von Wolkenbildungen, Gezeiten, Schaum und Rauch erschließen sich der Beobachtung. Das rauschhafte Einatmen der ätherischen Dämpfe  verbindet sich mit dem freigelegten Bildgedächtnis des Hirns. Pythia, die Seherin des delphischen Orakels, pflegte ihre dunklen Zukunftsverse unter dem Einfluss von Dämpfen den ängstlichen Pilgern mitzuteilen.

Angeregt ist diese Bilderwelt auch von Reisen nach Israel zu historischen Stätten, nach Spanien und Portugal, nach Leningrad und Nowgorod, nach England mit den mythischen Plätzen Stonehenge und Glastonbury und zu den Stätten der Kornkreise, nach Griechenland zu Stätten des Altertums wie Mykene und Delphi und in die Türkei nach Ephesos und Troja erweiterten den Horizont seines Wissens und seiner Wahrnehmung, was sich direkt und unmittelbar in seinem Werk wiederfinden lässt. Zwei zentrale Motive, die immer wieder auftauchen sind Don Quijote und Franz von Assisi. Es weht auch ein Hauch des Mystischen durch diese Formenwelten.

 

Der Bilderzyklus „Achill und Aiax“ – von Dr. Manfred Strecker

Zu seinem Werkzyklus „Brettspieler“ ließ sich Günter Frecksmeier durch die Malerei des griechischen Künstlers Exekias auf einer Amphore inspirieren: Achill und Aiax sitzen beim Brettspiel, ihre Waffen griffbereit, eine Szene aus dem Trojanischen Krieg, gemalt ca. 550 v. Chr. Die Amphore befindet sich heute in der Sammlung des Vatikan.

Brettspieler

Der Bilderzyklus „Achill und Aiax“ des Bielefelder Malers Günter Frecksmeier
Von Dr. Manfred Strecker

Ein Bild begleitet einen Maler manchmal weit und lange durch die Jahre. Wie eine tragende existentielle Wahrheit immer wieder geprüft und befragt, gibt es dennoch seine Bedeutung nicht völlig preis. Und in der Aneignung, also von eigenem Bild zu Bild verwandelt sich überraschend, was einmal in blitzartiger Einsicht die Lösung der Rätsel versprochen hatte.

Fast 50 Jahre schon, 1967 zum ersten Mal, beschäftigt den Bielefelder Maler Günter Frecksmeier ein Vorbild aus der Antike: Achill und Aiax – die nach den Sagen stattlichsten Helden der Griechen vor Troja – sitzen sich beim Brettspiel gegenüber. Dieses durchaus bekannte Motiv schmückt eine Bauchamphore, die die vatikanischen Sammlungen in Rom besitzen. Es stammt von Exekias, tätig um 550 bis 530 v. Chr. – einem Künstler, dessen szenische Darstellungen mit wenigen, aber charakteristischen Figuren im offenen Bildraum noch heute überzeugen. Die griechischen Helden beim Spiel erfasst der Töpfer und Vasenmaler Exekias im Seitenblick. Er zeigt sie konzentriert und ernst über das Spielbrett gebeugt. Aber alle Anzeichen sprechen dafür, dass sie unvermittelt in den Kampf gehen könnten, sobald sie gerufen werden. Beide sind gerüstet. Achill trägt seinen Helm, der des Aiax ist in Griffweite. Beide halten die Speere und Lanzen in den Händen.

Und dennoch: Um ein Genrebild aus dem müßggängerischen Lagerleben vor Troja handelt es sich gewiss nicht. Achill stirbt, wie man weiß, heldenhaft im Kampf vor der belagerten Stadt. Aiax begeht Selbstmord, nachdem er – wieder bei Bewusstsein – eines Ausbruchs von Wahn gewahr wurde, bei dem er die Herden der Griechen niedergemetzelt hatte. Odysseus soll beiden als Schatten, so berichtet Homer, in der Unterwelt begegnet sein. Nachhomerische Überlieferung jedoch versetzt sie – nun unsterblich geworden – auf die Insel Leuke. Und dort hat sie Exekias beobachtet bei ihrem nimmer endenden Spiel, das sie nur unterbrechen werden, um wieder – wie einst – gegen Troja zu ziehen.

Eine Szene außerhalb aller menschengeschichtlichen Zeit und historischen Gelegenheit – vielleicht hat Frecksmeier gerade diese Zeitentrückung fasziniert –, die diesen Figuren götterähnliche Größe und Ausstrahlung gibt. In seiner ersten Interpretation 1967, ein schwarz-weiß gemalter Karton, setzt er diesem Vorbild seine eigenen Figuren und Symbole ein – wie in eine Choreografie, die Positionen und Beziehungskonstellationen regelt. Aber damit verwandelt sich das Vorbild des Exekias. Und Frecksmeier gewinnt eine Bildersprache des Mythos und des Phantastischen, die auch noch unsere aufgeklärt scheinende, auf jeden Fall entzauberte heutige Realität umgreift. Achill sitzt nun einem Heldentypus moderner Prägung gegenüber, einem Astronauten im Raumanzug und unter Schutzhelm. Das Brett ruht auf dem Rücken eines mythischen Tiers. Ihrem Spiel geben sie sich weltvergessen hin. In diesem bildnerischen Entwurf kommen so wie selbstverständlich zwei ferne Welten in einer Wirklichkeit zusammen. Die Geschichtsthese, die darin vielleicht verborgen liegt, wäre pessimistisch: Viel ändert sich in der Ausstattung der Welt, wenig in den Verhältnissen.

In Frecksmeiers Bilderreihe, sogar in Bilderobjekten, die sich daran anschließen, bleibt das Grundarrangement bis auf geringe Ausnahmen dasselbe. Neue verrätselte Elemente fügt der Maler ein – Verkündigungsengel und Totenschädel, Auto und Atomkraftwerk als Zeichen der Neuzeit. Doch über die Jahre verändert sich der Gehalt der Szene, mal mählich, mal schubweise, selbst. Äußere Umbrüche zeitigen bildnerische Wirkungen. Mit dem Fall der „Mauer“ bricht eine Weltordnung zusammen, die die politische Wirklichkeit in der globalen Gegnerschaft von West und Ost polarisiert hatte und die Frecksmeier ebenfalls in seinem Bildmotiv spiegelte.

Zwei gegensätzliche Möglichkeiten spielt der Maler daraufhin 1991 durch. Achill und der Astronaut hinfällig, als leblose zerbrechende Puppen aufgefasst in einer schäbig gewordenen Umgebung; und es steigt die Flut. Zum anderen ein Bild, auf dem die zuvor noch würfelnden Kontrahenten das Widerspiel aufgegeben haben.

Aus dem Schachtisch ist ein Verhandlungstisch geworden. Und in einer tänzerisch verzückten Erlösungsgeste feiert Achill eine neue Lebensfreiheit.

Ein Bild begleitet einen Maler manchmal weit und lange durch die Jahre. Frecksmeier hat das Vorbild des Exekias in seiner Kunst in verschiedenen Bildsprachen und Materialien dekliniert. Merkwürdig, undurchsichtig, von eigenartiger Präsenz sind alle diese phantastischen Zeitdeutungen, in denen Weltgeschehen und Biografisches zusammentreffen – nach künstlerischer Logik. Ein Vierteljahrhundert bildnerischen Denkens: Die Gelegenheiten, dies auf solche Zeiträume zu beobachten, sind rar.

Januar 1993 (aktualisiert 2017)

(Mittlerweile ist es fast ein halbes Jahrhundert bildnerischen Denkens, fast 50 Jahre! Das ist noch rarer. Und es sind mittlerweile an die 30 bis 40 Werke, in denen Frecksmeier dieses Thema dekliniert hat. So genau weiß er das selbst nicht mehr …, Anmerkung des Sssetzers)